Lidia Vyrstiuk

Serednja, Iwano-Frankiwsk

Lidia Vyrstiuk ist eine sehr bescheidene, ruhige Frau. Seit ihrer Kindheit kümmerte sie sich um andere – ihre Brüder, Schwestern und ihre Mutter. Und in ihren späteren Jahren war sie völlig allein. Es gibt jetzt niemanden, der sich um sie kümmern würde.

Frau Lidia ist 82. Sie wurde im Dorf Serednia im Kreis Kalusch in der Region Ivano-Frankivsk geboren. Sie wuchs in einer großen Familie auf, in der jeder schon in jungen Jahren wusste, was harte Arbeit ist. Ihre Eltern arbeiteten ihr ganzes Leben lang auf einer Kolchose, die Mutter als Melkerin und der Vater in einer Ziegelei.

Die kleine Lida verbrachte ihre Kindheit auf einer Kolchose neben ihrer Mutter. Alle Kinder halfen der Mutter. Als der Vater starb, wurde es noch schwieriger. „Wegen der harten Arbeit wurde der Vater oft krank und starb. Wir blieben Halbwaisen zurück“, sagt Frau Lidia traurig.

Und irgendwann musste jeder plötzlich erwachsen werden. Die kleine Lida hatte nur einen einzigen Traum: Sie wollte eine Ausbildung machen und eine Arbeit finden, um ihrer Mutter bei der „Erziehung“ ihrer jüngeren Kinder zu helfen.

Nach dem Abschluss der Berufsschule arbeitete sie als Verkäuferin. Die Arbeit im Laden schien ihr etwas Besonderes zu sein: Jeder Besucher brachte seine eigene Geschichte mit, Lidia hörte zu, bewahrte das Gehörte im Gedächtnis und freute sich insgeheim, dass sie an den Momenten im Leben der Menschen teilhaben konnte.

Frau Lidia hatte einen Traum, der nie in Erfüllung ging. Sie konnte keine eigene Familie gründen, obwohl sie es unbedingt wollte. „Ich bin allein auf dieser Welt“, seufzt die Frau. Zu ihren engsten Verwandten zählt sie allerdings eine Schwester. Allerdings hatten sie schon sehr lange keinen Kontakt mehr.

Als es für Lidia schwierig wurde, allein zurechtzukommen, kümmerten sich Sozialarbeiter um sie und halfen ihr, eine Unterkunft zu finden. So landete sie in der Notunterkunft. „Es ist gemütlich hier, die Mitarbeiter des Heimes sind die einzigen, die sich um mich kümmern“, sagt die Frau. „Wie gut, dass es einen Ort gibt, wo man im Alter sein Haupt hinlegen kann, wo einen ein freundliches Wort wärmt.“

Im Laufe der Jahre blieben Bücher ihr einziger Trost. Sie liest, als suche sie im Schicksal anderer nach einem Echo ihrer eigenen Person.  Sie findet auf jeder Seite einen Tropfen Trost. Frau Lidia sagt, ihre Geschichte sei bereits geschrieben. Vielmehr wird sie immer noch geschrieben – in jedem warmen Wort der Unterkunft-Mitarbeiter, in jedem Sonnenstrahl, der auf ihr graues Haar fällt, in jedem Buch, das sie mit Ehrfurcht durchblättert. Denn solange im Herzen wenigstens ein Funke Güte und Hoffnung vorhanden ist, endet die Geschichte nicht.